Europe’s High Points – Reaching The Summit Of Every Country In Europe

“Europe’s high points – Reaching the summit of every country in europe” 

So lautet der Titel einer Lektüre, die so wohl recht einzigartig ist (noch). Ein Sammelsurium jener Bergtouren, die auf die höchsten Gipfel der Länder in Europa führen. Das stellt einen natürlich vor einige Herausforderungen – sowohl den Autor, aber auch den Leser. Im Folgenden deshalb eine große Analyse und Buchkritik zu “Europe’s high points”, damit ihr besser nachvollziehen könnt, was dieses Buch von euch erwartet und, viel wichtiger, was ihr von diesem Buch erwarten dürft. Zum Schluss gibt es dann noch eine kurze Sinnfrage: Ist so ein Buch eigentlich wertvoll. Für einen als Bergsteiger, aber auch für den Bergsport per se. Also wie immer auch zum Ende hin nochmal was Philosophisches zum Mitplaudern.  

Der Aufbau 

Wer einen Kletterführer, wie beispielsweise von Panico oder dem Alpinverlag schon mal in die Hand genommen hat, der kennt die Struktur einer klassischen Gebirgsliteratur. Ein, zwei Seiten pro Tour, alles Wichtige beschrieben, viele Symbole, ein paar Listen, Daten, ein Bild und fertig. Das ist der klassische Ansatz der Alpenliteratur. Doch wer Engländer (Die Autoren Carl McKeating und Rachel Crolla sind aus Yorkshire im Norden Englands) kennt, der kennt auch ihre Eigenheiten und das nicht nur beim Essen, Autofahren und dem Klettern. Man könnte sagen: Engländern fehlt es an Erfahrung beim Aufsetzen klassischer Gebirgsbücher und das wird an dieser Stelle überraschen: Das ist absolut gut so. Erfrischend, anders, mehr wie ein Buch und weniger als eine stupide Anleitung aufgebaut.  

Ein langes und ausführliches Vorwort schafft die Rahmenbedingungen, um mit dem Buch “arbeiten” zu können. Erklärungen, wie ihre Bewertungen zustande kommen, wie sie eigene Bewertungssysteme im Buch definieren, welche offiziellen Schwierigkeitsgrade bei den Hochtouren und Kraxeltouren existieren und wie ihre ganz eigenwilligen Karten aufgebaut sind. Ganz besonders spannend sind die Gipfel, die umstritten sind. In Italien ist nicht klar, wie man den höchsten Berg definieren möchte. Daher haben sie den offiziellen (Mont Blanc), aber auch weitere Varianten in einem Anhang nochmal erklärt (u.a. Nordend, Gran Paradiso etc.)  

Inhalt 

Jede Tour bekommt im Schnitt vier Seiten Platz. Bei Rund 50 Touren, einem Vorwort und einem Glossar schaffen es die 250 Seiten im Kleinformat überraschend handlich so viele Bergtouren unterzubringen. Jedoch: Es fehlt an nichts. Eine Seite ist immer die Karte und über drei Seiten wird einem “Datenblatt” alles zahlenlastige beschrieben und in einem Fließtext der Aufstiegsweg, der Abstiegsweg und die Besonderheiten bzw. Varianten erklärt und erwähnt. Mit ein paar Bildern gewürzt kann man so auch einen Eindruck von der Tour bekommen. Nicht immer haben die Autoren die aussagekräftigsten Bilder gewählt (die bspw. Die Schlüsselstellen klar darstellen), sondern manchmal auch schlichtweg die schönsten Punkte der Tour.  

Die Legende der Karte, und die Karte selbst, sind für einen studierten Kartographen ein Stich ins Herz. Dass man hier keine Auszüge aus der frei verfügbaren OpenStreetMap genutzt hat, mag gute oder schlechte Gründe haben, jedenfalls ist die Karte nicht mehr als eine nette Erstorientierung – als tatsächliches Kartenblatt ist sie sinnlos. Bei den meisten der gezeigten Touren ist aber eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Weg aber ohnehin notwendig, sodass das auch nicht der Anspruch der Karte sein muss. Sie zeigt Himmelsrichtungen, Alternativwege, andere Routen und Co. an, sodass man jedenfalls mit einem guten Überblick gerüstet ist.  

Ein tolles Detail ist unter jedem Datenblatt die Trivia. Die Tour wird ins Verhältnis zu ähnlichen Touren gesetzt, es kommt zu einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte und ein paar wichtigen Fakten über die Tour, die mit der Wegfindung per se nichts zu tun haben. Das ist deshalb nett, weil es dem Bergsteigen etwas mehr Fleisch gibt als lediglich das Erreichen des Gipfels. Der Fokus ist und bleibt aber eine Routenbeschreibung, was so gesehen eine gute Mischung ist. Auch ein bisschen Information zum Schmunzeln über die jeweiligen Länder fehlt nicht – es bleibt ein erfrischendes Buch. 

Da ich einige der “Europe’s Highest” kenne, konnte ich auch an einigen Touren eine Stimmigkeit überprüfen. Und was soll ich sagen… ich war beeindruckt. Für ein Team aus Bergsteigern, die aus dem hohen Norden eine einmalige Tour auf einen Berg machen, ist die Routenbeschreibung erschreckend akkurat. Vor allem ist sie auch derart formuliert, dass bei den schwierigen Touren stets die Komplexität betont wird. Die Autoren versuchen übermütige und unüberlegte Gipfeljäger zu warnen, ohne einen arroganten Ton anzustoßen. Äußerst angenehm. Die Routenbeschreibung selbst ist vor allem über Himmelsrichtungen angegeben. “Links abbiegen” findet man hier nicht – es ist in Großbritannien eine übliche Art Trekking zu betreiben und diesen Stil findet man in der Lektüre wieder.  

Die Auswahl 

Jetzt können wir mit dem Streit beginnen – wo fängt Europa an, wo hört es auf? Als Geograph in spe wetze ich schon mal die Messer, ich bin für jeden Kampf gerüstet. Es ist völliger Nonsens über die Abgrenzung Europas zu diskutieren – netterweise stellen das die britischen Autoren (die Ironie schmeckt schon ordentlich) auch zu Beginn des Buches gleich klar. Sie erklären im ersten Kapitel, dass ihre Festlegung der Gipfel eine Logik hat, die sie gerne erklären. Wir finden also auch Länder wie die Westtürkei und Belarus in der Liste, Georgien aber beispielsweise nicht. Das Buch weist jedoch auch auf die verschiedenen Unterteilungen Europas hin und erklärt gut, wie vielseitig Europa abgesteckt werden kann. Am Ende kann sich also jeder Leser seine eigene Liste zusammenbasteln, je nachdem welches Europa man gerade vor sich hin definiert hat. Die Definition eines politischen Europas hätte Stand heute zumindest den Vorteil, dass man für die Erfüllung des potenziellen Ziels in keine Kriegsgebiete reisen müsste – so hart das auch klingt.  

Chancen, Risiken, Nebenwirkungen 

Das Gute an diesem Buch ist, dass der Anspruch daran durch den Leser definiert und eigentlich fast immer auch erfüllt werden kann. Will man einen groben Überblick über alle höchsten Gipfel Europas, dann ist das ein gutes Buch. Will man tatsächlich diese Gipfel alle besteigen, dann hat man hiermit den Startpunkt zum Festhalten und Informieren. Die Wegbeschreibungen sind für Besteigungen bei den mir bekannten Touren tatsächlich ausreichend und können durch eine Internetrecherche erweitert werden. Die Bilder und die Karte vermitteln eher eine Idee und einen Überblick/Eindruck, mehr aber auch nicht. Das sei dem Buch zugestanden – Führerliteratur ist diesbezüglich ohnehin nie die beste Quelle, um alleinstehend zu funktionieren, wenn es um große Bergtouren geht.  

Natürlich KANN man einfach für jedes Land Europas, oder gar der ganzen Welt, die höchsten Gipfel googlen. Natürlich KANN man für jeden dieser Gipfel die Wegbeschreibungen im Internet herauskramen und sich dann fragen, ob man hier jetzt den Normalweg oder die Varianten gefunden hat. Doch wer tut das? Dieses Buch ist nicht nur als “Guide” gedacht, sondern vielmehr auch als eine Wissenssammlung und ein Werk, dass dank Glossar und Inhaltsverzeichnis 10x besser strukturiert ist als die 100en Blogeinträge im Internet.  

Doch geschenkt ist folgende Tatsache: Wer sich für dieses Thema nicht interessiert, der wird darin nichts finden, was einen Kauf lohnt. Unabhängig davon, ob man sich aus einem praktischen, oder theoretischen Gedanken für diese Thematik interessiert, ist es aber bei vorliegendem Interesse ein wirklich netter Schinken zum Durchblättern und Lesen. Vor allem, weil man mit sehr vielen dieser Gipfel keinerlei Berührungspunkte hat und dadurch schlichtweg ganz neue Einblicke in die “Berg”welt Europas bekommen kann. “Berg”welt deshalb, weil man auf seinem Weg durch die höchsten Gipfel Europas auf unzählige Kuriositäten stößt, wie den 321 Meter hohen Vaalsberg in den Niederlanden, oder, selbstredend, den Petersdom im Vatikanstaat mit stolzen 132 Metern Höhe. Vor allem für solche “Berge” sind die Tourenbeschreibungen eine unglaublich gut geschriebene Geschichte mit dem typisch britischen Humor.  

Philosophiestunde 

So. Frage: Ist es als Bergsteiger erstrebenswert immer auf den höchsten Gipfel der Welt, Europas, des eigenen Landes, des eigenen Bundeslandes oder des eigenen Vorgartens zu stehen? Fakt ist, dass diese Frage für sehr viele Menschen mit “Ja” zu beantworten ist. Der Stau auf der Zugspitze, dem Everest und dem Großglockner beweisen das. Für Menschen, die über ihren Lokalpatriotismus hinaus auch andere “Höchste” in Europa besteigen wollen, ist diese Literatur jedenfalls der beste Anhaltspunkt, um damit zu starten oder dieses Vorhaben fortzusetzen. Dieses Werk ist bisher unschlagbar, wenn es um die Mischung aus Überblick und Details zugleich geht.  

Doch was sagt es über die Bergsteiger aus, die lediglich auf der Suche nach Superlativen sind? Normalerweise müsste man jetzt als “alter Hase” argumentieren, dass solche Leute das Bergsteigen nicht verstanden haben, lediglich die Wege zählen und nicht die Gipfel und sowieso und überhaupt. Es gibt unzählige Kritikpunkte an einer solchen Vorgehensweise und normalerweise wäre ich der lauteste Purist, wenn es darum geht diese Kritikpunkte zu äußert. Deshalb wahrscheinlich umso erstaunlicher: Ich finde dieses Buch sehr gut und ich finde auch diese Idee sehr gut. Doch nicht aus einer Perspektive der Superlative heraus. Nicht, um irgendeine halbgare Errungenschaft in sein Tinder Profil schreiben zu können. Mir geht es um die Idee, Bergsteigen als kulturelle Herausforderung zu verstehen. Denn Bergsteigen bedeutet in ganz Europa in fast jedem Land etwas völlig anderes. Das Wandern, Klettern und Bergsteigen in Portugal ist eine andere Welt als in der Türkei und nochmal eine andere Welt als in Schweden. Nicht nur die Landschaft, auch die Menschen, die Etikette, die Umgangsformen und die Herangehensweisen unterscheiden sich stets maßgeblich. In vielen dieser Länder ist man auffälliger als ein blauer Hund, wenn man nach höchsten Hügeln sucht. Man erreicht allein dadurch schon neue Einblicke in die Kulturen dieser Länder, da man auf überraschte, hilfreiche, hilflose und auch ablehnende Menschen trifft. Man ist durch die Eigenheiten dieser Regionen gezwungen, sich mit den Menschen, der Infrastruktur und den grundsätzlichen Gegebenheiten viel mehr auseinanderzusetzen, da man ohne diesen Schritt überhaupt nirgends raufkommt. DAS ist genau das, was Bergsteigen wieder interessant machen kann, selbst in Gegenden, die oberflächlich äußerst uninteressant wirken können.  

Natürlich wird es zahllose Menschen geben, die in erster Linie in ihrer Jagd nach Superlativen diese Ziele suchen. Das sei niemandem verwehrt. Ich erachte nicht für den Weg und die Intention, die einen in den Bergen zum Glück verhilft. Ich erachte es eher als einen zielstrebigen Weg zur unerfüllten Träumerei und Enttäuschung. Doch findet man sich etwas verzweifelt und verloren inmitten der albanischen Pampa wieder und freut sich über die Gastfreundschaft der Einheimischen, die einem den Weg zeigen und vor den wildgewordenen Hütehunden schützen, dann eröffnet das eine neue Ebene. Diese Bergtouren in diesem Buch führen nämlich raus aus dem Tourismus. Raus aus der Zivilisation und in eine Welt, die so abenteuerlich ist, wie es manche heute nur noch im Karakorum zu finden glauben. So ist dieses Buch nicht nur im Lesefluss erfrischend, sondern auch in der praktischen Umsetzung jeder einzelnen Zeile.